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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783446205949
Sprache: Deutsch
Umfang: 120 S., 36 s/w Illustr., 36 Illustr.
Format (T/L/B): 1.6 x 20.8 x 13 cm
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

England, Anfang der vierziger Jahre: Veza und Elias Canetti lernen die ebenfalls emigrierte österreichische Malerin Marie-Louise von Motesiczky kennen, und bald entwickelt sich eine Liebesbeziehung der Malerin mit dem Dichter. Dieses Buch ist der Erstdruck einer Reinschrift, die Canetti 1942 Marie-Louise geschenkt hat. Es sind Aufzeichnungen aus der Zeit des Blitzkrieges, in denen sich bereits Canettis große Themen finden: Die Sprache, der Tod, die Zeit und die Utopie. Mit einem Nachwort von Jeremy Adler.

Autorenportrait

Elias Canetti wurde 1905 in Rustschuk/Bulgarien geboren und wuchs in Manchester, Zürich, Frankfurt und Wien auf. 1929 promovierte er in Wien zum Dr. rer. nat. 1930/31 erfolgte die Niederschrift seines Romans Die Blendung, der 1935 erschien. 1938 emigrierte Canetti nach London, wo er anthropologische und sozialhistorische Studien zu Masse und Macht (1960) aufnahm. Ab den 1970er Jahren lebte er vorwiegend in der Schweiz und erlangte weiterreichende Berühmtheit mit seinen Theaterstücken, den Aufzeichnungen und den autobiographischen Büchern, darunter Die gerettete Zunge. 1981 wurde ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen. 1994 starb er in Zürich.

Leseprobe

Keiner will die Türe sein. Drei oder viermal im Tage schüttelte er sich selber herzlich die Hand, statt der Besuche, die nie kamen, und immer brachte er sich überraschende Neuigkeiten mit. Sie kämpfen zwischen den Zehen, im Nabel, in den Nüstern, sie kämpfen im Hintern, unter den Achseln, in den Ohren und im Mund, es gibt keinen versteckten Ort, kein Zollbreit, keine Pore tief, wo sie nicht auf Leben und Tod miteinander kämpfen. Die Nationen sind Freudenmädchen und Klageweiber. Sie schneiden ihren Opfern erst Ohren und Namen ab; dann hören die niemand rufen; dann kann die niemand rufen; und sind nur noch Hände. Er kann nur noch unter Tieren lachen. Er bemühte sich in der Hölle vernünftig zu bleiben. »Zu Hause« war für ihn ein Haufen von vergilbten Bohnen. Im letzten Kriegsjahr wurde auf jede Träne eine Buße von 10 Reichsmark gelegt. In die Herzen der Mütter wurden Mikrophone eingebaut. Wüßte ich, wer aus ihm spricht, aus diesem, aus jenem, aus dem andern ! Soviel Tote suchen nach lebenden Stimmen und wie stoßen sie einander fort ! Härter noch als bei uns Lebenden ist ihr Kampf untereinander, sie kämpfen um viel mehr; und der Geschlagene bei ihnen ist nie tot, nur vertrieben. Mögen sie nur dieser niedrigen Rauferei fähig sein, ich segne sie, ich segne sie für dieses letzte bißchen Leben; und sie können mich besetzen, schütteln und quälen, wenn sie nur irgendetwas tun. Tote, o geliebte Tote, wie möchte ich euch kennen und erfreuen und beschenken, mit vollen schönen Stunden meines kurzen Lebens ! Die Krähen über dem gelben Korn geben mir das heftigste Gefühl des Lebens. Als er jung war, hatten die Propheten Gesichter von Michelangelo; er sah sie oft an und sie waren ihm freundlich und vertraut. Jetzt haben sie ihre Worte wieder gefunden, ihre Gesichter sind nirgends und o wie er sie fürchtet ! Die Besessenheit kommt ihn wieder an, was soll er den ruhigen Augen sagen. Die Tiere wissen vom Feuer mehr als wir Menschen ahnen; aber sie können es nicht rufen und jagen Die Namen der Musen tönen von der Zärtlichkeit vieler Hände. Um ganz Tod zu sein, sucht sie sich Insekten zum Töten aus. Er will heimlich sterben, um niemand den Triumph zu gönnen, und als letztes Mahl ißt er sein Testament. Christus ist zu öffentlich gestorben; sein Opfer ist zu einem ewigen Anreiz geworden. Er wünscht sich verschieden eingerichtete Ohren, jedes für andre Welten und alles was für beide notwendig wäre, im Hirn. Er fürchtet sich vor Decknamen: der König der Klugen. Sein Bier schmeckt ihm nicht mehr so gut: der Krieg schaut aus dem Krug. Aus dem Nachwort: Vermutlich hat Canetti das Manuskript als Geschenk zu Marie-Louises 36. Geburtstag am 24. Oktober 1942 fertiggestellt. Dieses Datum könnte die Auswahl "aus der zweiten Septemberhälfte 1942" erklären. Vielleicht wollte Canetti die Freundin mit seiner jüngsten Produktion überraschen. Wie aber schon bemerkt, stammen manche Aufzeichnungen von Anfang Oktober. Ob sich Canetti bei der Datierung irrte, oder ob er die zweite Septemberhälfte als Epoche wählte, da diese eine besondere Bedeutung besaß - z. B. als Erinnerung an die Zeit, da sie sich drei Jahre vorher kennenlernten - läßt sich heute nicht ermitteln. Wir haben kaum Zeugnisse für dieses frühe Stadium ihrer Beziehung und das seltene Stück, ein Monument dieser Freundschaft, dürfte das erste ungefähr datierbare Zeichen ihrer Bekanntschaft sein. So kommt dem hier veröffentlichten Manuskript eine zweifache Bedeutung zu: als Zeugnis von Canettis Aufzeichnungswerk sowie als Urkunde und als Monument eines langjährigen Umgangs, der dem Paar viel Glück und besonders Marie-Louise viel Unglück bescherte. Leseprobe