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Die Herrschaft des Todes

Erschienen am 04.03.2006
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783446207271
Sprache: Deutsch
Umfang: 302 S.
Format (T/L/B): 2.6 x 21 x 13.2 cm
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

Der Tod als Ursprung aller Zivilisation - mit dieser provokanten These möchte Robert Harrison in seiner unkonventionellen Studie zeigen, was der Reichtum des Lebens dessen Endlichkeit verdankt. Eine Kultur entwickelt sich nämlich nur dort, wo sich die Menschen ihrer Verstorbenen erinnern: durch Gräber und Denkmale, durch Bilder und Texte. Human kann sich eine Gesellschaft immer nur nennen, wenn sie sich ihrer Wurzeln bewusst ist - und am Ende bleibt es Sache der Kunst, dieses Bewusstsein wachzuhalten.

Autorenportrait

Robert P. Harrison, geboren 1954 in Izmir in der Türkei. Nach dem Studium in Frankreich und in den Vereinigten Staaten lehrt er heute französische und italienische Literatur an der Stanford University in Kalifornien. Bei Hanser erschienen zuletzt: Gärten. Ein Versuch über das Wesen des Menschen (2010) und Ewige Jugend. Eine Kulturgeschichte des Alterns (2015).

Leseprobe

VORWORT Wie immer es mit der Kluft zwischen Natur und Kultur bestellt sein mag, beide Sphären haben miteinander zumindest soviel gemeinsam: sie zwingen die Lebenden, den Interessen der Ungeborenen zu dienen. In einer entscheidenden Hinsicht verfolgen sie jedoch unterschiedliche Strategien: die Kultur verewigt sich durch die Macht der Toten, während die Natur, soweit wir wissen, von dieser Ressource nur in rein organischem Sinne Gebrauch macht. In der Welt der Menschen sind Tote und Ungeborene natürliche Verbündete, und dies gilt in solchem Maße, daß erstere von ihrer posthumen Wohnstatt aus - wo immer sie liegen mag - den Lebenden Gefühle von Schuld, Furcht und Verantwortung einflößen und uns mit allen erforderlichen Mitteln dazu zwingen, die Ungeborenen in unsere Obhut zu nehmen und die Geschichte in Gang zu halten, auch wenn uns nie ganz klar wird, worum es bei der Geschichte geht, welche Rolle wir in ihr spielen, welchem Ziel sie zustrebt oder welche Moral sie beinhaltet. Eines Tages wird vielleicht die Genetik die Geheimnisse dieser Vormundschaft entziffern, aber einstweilen können wir sicher sein, daß es ein Bündnis zwischen den Toten und den Ungeborenen gibt, zwischen denen wir, die Lebenden, lediglich das Bindeglied sind. Unsere grundlegenden menschlichen Institutionen - Religion, Ehe und Bestattung der Toten, wenn man Giambattista Vico folgt, aber auch Recht, Sprache, Literatur und alle anderen Dinge, die auf die Weitergabe von Vererbtem angewiesen sind - haben als Urheber immer und von Anfang an diejenigen, die vorher kamen. Das Wissen um den Tod, das die menschliche Natur definiert, läßt sich nicht von unserem Wissen darum trennen - ja, es entspringt ihm -, daß wir uns nicht selbst geschaffen haben, daß wir in die Fußstapfen der Toten treten. Wohin man auch blickt im Spektrum menschlicher Kulturen, überall stößt man auf die grundlegende Autorität des Vorgängers. Nichtmenschliche Spezies gehorchen nur dem Gesetz der Vitalität, aber die Menschheit steht in den für sie charakteristischen Grundzügen ganz und gar unter der Herrschaft der Toten. Ob wir uns dessen bewußt sind oder nicht, wir erfüllen den Willen der Vorfahren: unsere Gebote kommen zu uns aus ihrer Sphäre; ihre Präzedenzfälle sind unser Recht; wir unterwerfen uns ihren Diktaten, selbst wenn wir gegen sie aufbegehren. Unsere Sorgfalt, Kühnheit, Rechtschaffenheit und Heldenhaftigkeit, aber auch unsere Torheit und Bosheit, unser Groll und unsere Pathologien sind nichts als Unterschriften der Toten auf den Verträgen, die unsere Identität besiegeln. Wir erben ihre Obsessionen; wir übernehmen ihre Bürden; wir setzen den Kampf für ihre Sache fort; wir werben für ihre Mentalitäten und Ideologien und sehr oft auch für ihren Aberglauben; und häufig sterben wir bei dem Versuch, ihre Demütigungen zu rächen. Woher rührt diese Knechtschaft? Wir haben keine andere Wahl. Nur die Toten können uns Legitimität verleihen. Uns selbst überlassen, sind wir alle Bastarde. Im Austausch gegen Legitimität, nach der Menschen mehr hungern und gieren als nach allem anderen, unterwerfen wir uns ihrer Herrschaft. In unserer modernen Vorgehensweise können wir ihre alte Autorität ignorieren oder verwerfen; doch wenn wir einen Spielraum wirklicher Freiheit erringen sollen - wenn wir »absolut modern« werden sollen, wie Rimbaud es formuliert hat -, dann müssen wir zunächst einmal die traditionellen Ansprüche anerkennen, die eine solche Autorität an uns stellt. Dieses Buch bietet einige allgemeine Perspektiven, die nur einen gewissen Teil der vielfältigen Beziehungen betreffen, welche die Lebenden in der abendländischen Kultur in Vergangenheit wie Gegenwart zu der großen Familie der Toten unterhalten haben und unterhalten. Diese Beziehungen sind an sich so ausgedehnt, so tiefgreifend und zahlreich, daß kein Buch hoffen könnte, diese Topoi anders als bruchstückhaft und selektiv zu behandeln. Ich spreche hier mit Absicht von Topoi, denn auf den folgenden Seiten suche ich Orte oder Topoi in unser Leseprobe